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Frankfurt (Oder), Scharrnstraße

Konzept & Umsetzung

Dr. Manfred Vogler


Heute mag man es kaum glauben, aber die alte Scharrnstraße wurde nach der Umgestaltung zur Fußgängerzone zu einem totalen Novum für Frankfurt (Oder). Gerade im Vergleich mit den zeitgleich gebauten großdimensionierten Wohnbauvierteln wie Neuberesinchen.

Anders als im industrialisierten Bauwesen vorgesehen, versuchte man mit diesem Projekt „traditionell in Frankfurt vorhandene Bauformen“ einzubeziehen, schrieb 1988 der verantwortliche Stadtarchitekt Dr. Manfred Vogler. Die Bauvolumina, die Dachzonen, die Dienstleistungen sowie die erzählerische Qualität vieler kleinteiliger Kunstwerke sollten die Erinnerung an die alte Handelsstadt wiederaufleben lassen. Die Vorgaben, die man im Stadtarchiv vorfindet, präzisieren den stadtgeschichtlichen Referenzpunkt: Dem Charakter der Straße als historischer „Konzentrationsraum der Frankfurter Messen [..] soll in der Neugestaltung vielfältig Rechnung getragen werden“.

Quelle: Stadtarchiv Frankfurt (Oder) Bildchronik 1987

Zwischen Messe und Mikroelektronik

Ebenso wie die Architektur, reflektiert die architekturbezogene Kunst eine geschichtsbewusste Wertschätzung der historischen Stadt. Der Stadtarchitekt Vogler unterbreitete den Künstler*innen schon im Frühjahr 1985 inhaltliche Vorschläge zur Gestaltung sowie detaillierte Standortvorschläge. Und zwar „sollte bei der künstlerischen Gestaltung auf die historische Situation Bezug genommen werden, um durch sozialistische Erbe- und Traditionspflege das frankfurttypische Stadtbild, damit Traditions- und Heimatbewußtsein der Bürger weiter auszuprägen“. Als spezifische Themenfelder schlug man den Künstler*innen „Handel, Transport, internationale Beziehungen der Stadt, Handwerk, Industrialisierung, Kultur und Kunst, Lebensweise, Geschichte“ vor – was die Vielfalt des städtischen Lebens im Laufe früherer Jahrhunderte repräsentiert. Mit diesem geschichtsbezogenen Programm wurde der sozialistisch-modern wiederaufgebauten „Friedensstadt“, der „Stadt der Mikroelektronik“ eine politisch unverfängliche Genealogie verliehen. Der Stadtarchitekt erklärte die Koordination der künstlerischen Aktivitäten zur Chefsache, ohne jedoch die Freiheiten der Künstler*innen einzuschränken. Manche Werke wurden in enger Abstimmung mit Dr. Vogler entwickelt, der weitere Vorgaben machte. Einige Künstler*innen wie beispielsweise Harald Schulze und Antje Scharfe hatten aber bei der Gestaltung völlig freie Hand.

Modell für die Nachverdichtung der Großen Scharrnstraße, inklusive einiger Kunstwerke (Platzgestaltungen von Gerhard Bondzin und Friedrich Stachat, Betonreliefs von Michael Voll). Dass die Kunst sogar im stadtplanerischen Modell so detailliert vorkommt, verdeutlicht ihren Stellenwert im Gesamtkonzept für die „erlebnisreiche Flaniermeile“.

Quelle: Stadtarchiv Frankfurt (Oder) Bildchronik 1987.


Ein Finanzwunder?

Die vielfältigen Kunstwerke mit ihren ganz eigenen Geschichten sind ein zentraler Bestandteil der Straßenkonzeption. Sie sollten das „Stadterlebnis“, so Vogler, interessanter machen. Normalerweise waren ca. 0,5 bis 2 % der Bausumme (des Hochbaus) für architekturbezogene Kunst vorgesehen.  In der Großen Scharrnstraße überstieg der Anteil jedoch mehr als das Zehnfache.

„Und wo kam nun das Geld her?“ gibt Vogler mit Augenzwinkern zu bedenken. „Alles Geld war ja festgelegt. Und wie habe ich die Scharrnstraße hingekriegt mit den weitaus größeren Ausgaben für die Häuser als sie in der Vorgabe möglich machten? Das war ja alles festgelegt, zentral.“ In der Tat mangelte es in der DDR zuletzt an Ressourcen, Waren und Wohnraum – wie konnte ein solch außergewöhnliches Projekt finanziert werden?

Skizze von Manfred Vogler, 2005. Nicht nur als federführender Architekt, sondern auch als langjähriger Bewohner der Straße behielt er den Überblick über „sein Gesamtkunstwerk“. „Ich habe es mir ausgedacht und kann es bis heute gut leiden“.

Quelle: Manfred Vogler, Privatbesitz, 2005

Eine Antwort liegt in der Person des Stadtarchitekten selbst. Im Laufe seiner Frankfurter Karriere hatte Manfred Vogler sich ein breites Beziehungsnetz und eine hohe Selbstständigkeit mit größeren Handlungsspielräumen aufgebaut. So war es ihm möglich, ursprünglich anderen Projekte zugeteiltes aber nicht genutztes Geld, für die Große Scharrnstraße zu verwenden. – Eine „sogenannte örtliche Initiative, zusätzlich zum Plan. […] Schon im März ahnten wir, wieviel am Ende des Jahres übrig ist“ erzählt Vogler. Neben dem Budget war zudem die Fertigung neuartiger, schräger dachähnlicher Plattenelemente sowie besonderer Teile für das Erdgeschoss im wahrsten Sinne des Wortes ‚außerplanmäßig‘. Dies war nur durch die gute Zusammenarbeit mit den verantwortlichen Architekten bzw. Stadtplanern möglich: Günther Hartzsch aus dem Büro für Stadtplanung, Andreas Weiler von der Projektierung im VEB Wohnungs- und Gesellschaftsbaukombinat sowie sein dortiger Chefarchitekt Jochen Beige waren am Projekt „wesentlich urheberrechtlich beteiligt“.

„Die Riesenfrage war: wo kriegen wir denn nun die für die Herstellung der Elemente notwendigen Metallgießformen her? Wer macht uns die? Da setzte sich die Bezirksleitung der SED ein, der Wirtschaftssekretär, und suchte krampfhaft bis er nach über zwei Monaten Suche ein Handwerksbetrieb fand, der in der Lage war, diese Formen zusätzlich zum Plan herzustellen. […] solche Widerstände kann sich gar keiner vorstellen, die darin lagen! […] Es muss ein festes … wie sagt der Westen heute zum Kollektiv…? Team! Teamwork muss es sein!“


Lokaler Eigensinn

Besondere, ‚außerplanmäßige‘ Ideen umzusetzen war eine Herausforderung. Denn die verschiedenen Ebenen des Bauwesens und der SED kontrollierten streng und mussten ihre Zustimmung zum Antrag zur Ausführung der Planung geben. Manfred Vogler wandte in solchen Situationen seine „kleinen Raffinessen und Tricks“ an, von denen er stolz berichtet. „Ich musste damit rechnen, ich werde nach Berlin gerufen zur Bauakademie, die war beauftragt von der Plankommission, die das prüfte, das genau zu untersuchen. […] Wie soll man sagen, einiges habe ich aufgeschrieben und einiges hiergelassen aber dann auch versteckt vor mir. Und es sind ja auch kleine Raffinessen, die ich da gemacht habe. Das konnte ich keinem anderen in Auftrag geben, das musste ich selber machen, diese Meldung nach Berlin. Jedenfalls ich war selber erstaunt, wie wir dann die Bestätigung kriegten“ erzählt Vogler schmunzelnd.

Bei so viel Engagement und aufgewendeter Energie für das Projekt, verwundert es nicht, dass die Große Scharrnstraße bis heute einen besonderen Stellenwert für Manfred Vogler besitzt. Von der Fertigstellung bis zur gegenwärtigen Sanierung war er dort wohnhaft.

Auch in anderen Städten der DDR entwickelten Architekt*innen ambitionierte Pläne. Solche waren im Bauwesen, das weitestgehend auf Planerfüllung ausgerichtet war, selten vorgesehen. Über Kontakte und informelle Absprachen mit entscheidenden Personen gelang den engagierten, eigensinnigen Architekt*innen die Umsetzung trotzdem. Daher ist es Manfred Vogler ein Anliegen, DDR-Geschichte nicht „als absolut zentralistisch, von oben bestimmt“ zu erzählen. Die Große Scharrnstraße ist in diesem Sinne ein hochinteressantes zeithistorisches Architekturzeugnis.

Text von Antje Wilke

Manfred Vogler – Biografisches

Dr. Manfred Vogler wurde am 12. November 1934 im thüringischen Langewiesen (bei Ilmenau) geboren. Nach seinem Abschluss an der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar arbeitete er in Berlin im Bereich der Auftragsvergabe, und in Neubrandenburg in der Dorf- und Erholungsplanung, dort kurzzeitig als Chefarchitekt. Seine wichtigste Schaffenszeit begann 1966 mit der Berufung zum Stadtarchitekten von Frankfurt (Oder).

Von seiner Entwurfsidee an leitete er die Planung der umfangreichen Wohnbauprojekte Frankfurts (Hansaviertel 1969-76, Halbe Stadt 1973-78, Neuberesinchen 1982-86). Auch im Zentrum wirkte er maßgeblich auf das Stadtbild ein, z.B. mit der Oderpromenade (1967-73), der sog. Stadtkerntangente (ab 1968) und dem innerstädtischen Wohnungsbau (Topfmarkt, Karl-Ritter-Platz und dem Kernstück Große Scharrnstraße; 1982-89). In den 1980er Jahren setzte er sich entscheidend für die Rekonstruktion und Erhaltung historischer Baudenkmale, das Rathaus und die Marienkirche, ein.

Mit dem Ende der DDR wurde das Büro für Stadtplanung aufgelöst und Manfred Vogler aus politischen Gründen entlassen.

Der Architekturhistoriker Holger Barth charakterisiert ihn „als engagierten Praktiker“, der im „Vergleich zu anderen Stadtarchitekten […] im besonderen Maße persönliche Akzente“ setzte. Auch wenn die Zusammenarbeit mit ihm zuweilen als „autoritär“ und „grob“ empfunden wurde, „habe [er] sein aufmüpfiges Charisma zugunsten einer lebenswerten Stadt eingesetzt“ erkennt die Journalistin Nancy Waldmann an. „Widerrede stachelt mich an, um Lösungen zu kämpfen“ erklärt Manfred Vogler.